deutsche Nation

deutsche Nation
deutsche Nation,
 
die (sprachlich, kulturell oder politisch verstandene) Nation der Deutschen, ein historisch nicht eindeutig zu bestimmender Begriff.
 
 Die deutsche Nation vom 9. bis 18. Jahrhundert.
 
Als sprachliche und politische Gemeinschaft entwickelte sich die deutsche Nation vom 9. bis zum 15. Jahrhundert. Im Hochmittelalter galt (in Abhebung von der italienischen und burgundischen Krone) die Bezeichnung Reich der Deutschen (Regnum Teutoni[cor]um beziehungsweise deutsches Regnum; deutsche Geschichte); seit dem 15. Jahrhundert wurde dem Titel des Heiligen Römischen Reichs der Zusatz deutscher Nation hinzugefügt. Diese deutsche Nation war in den Reichsständen (Kurfürsten, Fürsten, Reichsstädte) des Reichstags, in den Reichskreisen und in der Reichsritterschaft sichtbar. Sprach- und Reichsgrenzen deckten sich nicht. Deutsch Sprechende außerhalb und Fremdsprachige innerhalb des Reichs waren in fast allen Grenzgebieten zu finden. Auch lagen deutsche oder deutsch beherrschte Länder (z. B. Preußen) außerhalb des Reiches, die tschechische Nation war in das Reich einbezogen. Im Westfälischen Frieden 1648 wurden die nördlichen Niederlande und die Schweizer Eidgenossenschaft staatsrechtlich vom Reich und damit endgültig von der deutschen Nation gelöst.
 
 Die deutsche Nation von 1806 bis 1945
 
Im 18. Jahrhundert traten angesichts der Schwäche des Reiches und des Aufblühens der bürgerlichen Bewegung die Probleme deutscher Nationalexistenz ins Bewusstsein. Aber erst nach dem Zusammenbruch des Heiligen Römischen Reiches (1806) und nach den Befreiungskriegen wurde die deutsche Nation zur politischen Frage: Die deutschen Liberalen forderten die im Deutschen Bund (1815) nach ihrer Ansicht nicht verwirklichte Einheit der deutschen Nation. Die Bewegung gipfelte in der deutschen Revolution von 1848/49.
 
Die Frage eines deutschen Nationalstaates wurde im Deutschen Krieg 1866 militärisch entschieden: Die österreichischen Deutschen wurden staats- und völkerrechtlich ausgeschlossen. Nach dem Sieg über Frankreich im Deutsch-Französischen Krieg wurde am 18. 1. 1871 das Deutsche Reich unter preußischer Führung gegründet - dem Wortlaut der Reichsverfassung vom 16. 4. 1871 nach als ein »ewiger Bund«, den die deutschen Fürsten eingingen, in der politischen Absicht und Wirklichkeit aber als deutscher Nationalstaat. So wurde das moderne, auf die staatspolitische Einheit bezogene Nationalbewusstsein der innerhalb der Grenzen von 1871 wohnenden Deutschen kontinuierlich über die politischen Einschnitte von 1918, 1933 und 1945 hinweg geprägt. Doch blieb die Gleichsetzung von Reichs- und Nationszugehörigkeit nach 1871 umstritten, weil Menschen nichtdeutschen Nationalbekenntnisses (z. B. Polen) in das Reich einbezogen waren und weil die Deutschen Österreichs vielfach an ihrer Zugehörigkeit zur deutschen Nation festhielten. Die mangelnde Identifizierung der deutschen Nation mit zeittypischen Verfassungslösungen sowie das Auftreten von nationalistischen Ideologien und Weltmachttendenzen, besonders des Nationalsozialismus, haben dann zu einer Krise im Verständnis der deutschen Nation geführt.
 
 Die deutsche Nation seit 1945
 
Nach dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches (1945) und der Übernahme der obersten Regierungsgewalt durch die Siegermächte stellte die weitere Entwicklung in den vier Besatzungszonen und in den Sektoren Berlins mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland und der DDR die Fragen nach dem Fortbestand von deutschem Staat und deutscher Nation.
 
In der DDR wurde zunächst an einer gesamtdeutschen Staatskonzeption festgehalten (Verfassung vom 7. 10. 1949); mit der Zweistaatentheorie (seit 1955), dem Staatsbürgerschaftsgesetz vom 20. 2. 1967 und der Verfassung vom 6. 4. 1968 (Präambel und Art. 1) wurde die staatliche Eigenständigkeit propagiert. Dennoch gelang es der Staats- und SED-Führung letztlich nicht, die seit 1970/71 (gipfelnd in der Verfassungsänderung vom 7. 10. 1974) postulierte These von einer allein auf diesen Staat bezogenen »sozialistischen Nation« anstelle der traditionellen Vorstellung von einer einheitlichen deutschen Nation in der Bevölkerung zu verankern.
 
Ausgehend vom Willen des Volkes, »seine nationale und staatliche Einheit zu wahren«, bildete das Bekenntnis des am 8. 5. 1949 vom Parlamentarischen Rat beschlossenen, am 23. 5. 1949 feierlich angenommenen und verkündeten GG zur rechtlich fortdauernden, (1945/49-90) nur tatsächlich beeinträchtigten Existenz der staatlichen Einheit und zum Fortbestand der deutschen Nation (Präambel und Art. 116 GG) die Grundlage zur Wiederherstellung eines einheitlichen deutschen Nationalstaates im Zuge des deutsch-deutschen Einigungsprozesses (Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland nach Art. 23 GG mit Wirkung vom 3. 10. 1990; deutsche Einheit, deutsche Frage, Wiedervereinigung); in seinem Grundvertragsurteil (1973) hatte das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsorgane darauf verpflichtet, von der im GG »verankerten« Existenz Gesamtdeutschlands mit einem deutschen (Gesamt-)Volk und einer (gesamt-)deutschen Staatsgewalt auszugehen.
 
 
Dtl., dt. Staat, d. N., hg. v. P. Krüger (1993);
 
Die d. N. Gesch. - Probleme - Perspektiven, hg. v. O. Dann (1994).

Universal-Lexikon. 2012.

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